Museumsschätze

Kurze Geschichte der Sehhilfen, oder: Wo ist denn nur wieder meine Lesebrille?

1. Hälfte 19. Jh.

Früher oder später betrifft es uns alle: plötzlich ist der Text auf der Speisekarte unmöglich zu entziffern! Oder man möchte schnell die inspirierende Stelle im Lieblingsbuch nachschlagen, aber wer soll diese kleine Schrift denn lesen können? Und schon wird nach der Lesebrille gesucht. So lästig für Betroffene (oder amüsant für Beobachter) diese immer wiederkehrenden Situationen auch sein mögen, wir sind nicht die ersten, denen es so geht.

Das beweist die auf dem Bild abgebildete Lorgnette, die im Museum Köflach aufbewahrt wird. Lorgnetten bestehen aus zwei Brillengläsern, die mithilfe eines seitlich angebrachten Griffs vor die Augen gehalten werden konnten und wurden um 1780 von dem englischen Optiker George Adams erfunden. Bei unserem Beispiel handelt es sich um eine frühe Form: die „starre“ Lorgnette, oder Einschlaglorgnette. Die Fassung dieser Variante ist starr, der Griff besteht aus zwei Hornschalen, die Fassung ist mit dem Griff durch ein Scharnier verbunden, und kann zum Schutz in den Griff hineingeklappt werden. An unserem Modell ist auch eine kleine Öse zu sehen, an der eine dünne Kette oder eine Kordelschnur befestigt werden konnte, um die Brille umzuhängen, oder an einer Brosche festzumachen. Damit war die Lorgnette jederzeit griffbereit und man ersparte sich die lästige Sucherei. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden diese Brillen vielfach weiterentwickelt, konnten mithilfe von Scharnieren immer kleiner zusammengelegt werden und es wurden sogar Sprungmechanismen eingebaut, um die Lorgnette mit einem Knopfdruck ausklappen zu können. Vor allem Frauen aus dem gehobenen Bürgertum benützten Lorgnetten bis ins 20. Jahrhundert hinein, da sie platzsparend, unauffällig, bequem und vor allem dezent für einen schnellen Blick verwendet werden konnten. Viele Modelle waren wie Schmuckstücke ausgestaltet, mit aufwendigen Fassungen aus Gold oder Silber, die mit Schildpatt, Elfenbein, oder Perlmutt besetzt waren.

Wie kam es nun zur Entstehung solcher Brillen?

In der Antike kannte man noch keine Sehhilfen. Dafür mussten zuerst die Gesetze der Optik, der Lichtbrechung, und die Technik des Glasschleifens entdeckt werden. Erst im 13. Jahrhundert wurden sogenannte Lesesteine verwendet. Das waren halbkugelige Linsen, die oft aus Beryll gefertigt wurden, von dem sich wahrscheinlich das Wort „Brille“ ableitet. Sie wurden mit der flachen Seite auf den Text gelegt und vergrößerten ihn so. Bald begann man, diese Lesesteine bikonvex zu schleifen, einzufassen und mit einer Halterung zu versehen, wodurch sogenannte Eingläser oder Manokel entstanden, die unseren heutigen Lupen gleichen. Um 1285 ist die erste Brille im heutigen Sinn nachgewiesen, eine Nietbrille, bei der einfach zwei Eingläser an den Stielenden mit einer Niete verbunden wurden. Erst ab dem 16. Jahrhundert sind konkave Linsen für Kurzsichtigkeit nachweisbar.

Die heute üblichen Brillen entstanden aus den Schläfenbrillen, die nur über kurze Bügel verfügten, die seitlich gegen die Schläfen drückten und so die Brille hielten. Kopfschmerzen waren vorprogrammiert. Daher wurden im 18. Jahrhundert die Bügel bis hinter die Ohren verlängert. Die Ohrenbrille war geschaffen! Sie setzte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts durch, da hier die Hände nicht benötigt werden, im Gegensatz zu den meisten anderen Sehhilfen.

Heute ist die Brille nicht nur praktisches Hilfsmittel, sondern als modisches Accessoire nicht mehr wegzudenken. Es gibt sie in unzähligen Formen und Farben, von dezent bis schrill. War es früher vor allem für höher gestellte Damen fast peinlich, eine Sehhilfe benützen zu müssen, ist die Brille heute zu einem Statement geworden, das man mit Stolz tragen kann. Ärgern wir uns also nicht zu sehr über die ewige Suche nach der Lesebrille, erfreuen wir uns lieber an den vielen Einblicken und Möglichkeiten, die sie uns eröffnet!

Lorgnette mit Etui, 1. Hälfte 19. Jh., Brille aus Horn, Glas, Metallnieten, Etui aus lackiertem Holz mit Perlmutt- und Metalleinlegearbeiten, ausgeschlagen mit violettem Samt, Länge der Brille: 12,7cm, Länge des Etuis: 14,7cm, Museum Köflach Inv.-Nr. 3717